Jeder Mensch muss seine eigene Idee verwirklichen

Ältere glauben häufig, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen. Schließlich haben sie mehr Erfahrung. Mehr erlebt, mehr gelernt, mehr geleistet. Und ich denke, natürlich ganz unvoreingenommen, auch wenn ich mittlerweile als einer dieser Älteren durchgehe: In vielen Dingen haben Ältere eben wirklich recht. 

Erfahrung lässt sich durch kein Google-Suchergebnis oder keine KI-Nachfrage ersetzen. Und was denkst du dazu? Ich meine, dass sich viele junge Menschen heute viel zu schnell mit Antworten zufriedengeben, zu wenig in die Tiefe gehen – und dabei interessanterweise uns Älteren in nichts nachstehen, wenn es darum geht, zu glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Nun, wer hat recht? Von wessen Löffel tropft mehr Wissen und Weisheit? 

Ich denke, wirklich weise wäre es, wenn wir diesen rechthaberischen Wettstreit beiseiteließen …

Leichter gesagt als getan

Ich durfte vor einigen Jahren einen tollen Familienunternehmer kennenlernen und unterstützen, der sich nun anschickt, sein Unternehmen an seine beiden Söhne zu übergeben. Er traut seinen Nachfolgern wirklich viel zu, hat nur wertschätzende Worte für sie. Aber dennoch hat er einen Unternehmensbeirat gegründet, der mitentscheiden soll. „Nur zur Sicherheit.“, sagte er. „Falls wir Mist bauten“, dachten wahrscheinlich seine beiden Jungs. 

Dennoch hat er angeregt – er, und nicht seine Söhne oder sie drei zusammen –, dass ich als Executive Coach seine Söhne in ihren Aufgaben als Nachfolgepersönlichkeiten unterstütze.

Ist das Kontrolle? Ist das Fürsorge? Wahrscheinlich beides. Aber es ist auch: kein Loslassen. Es ist Druck. Der Druck, den der Ältere spürt, weil für ihn diese Nachfolge-Situation ja auch anspruchsvoll ist. Der Druck, den die Jüngeren spüren, weil es aussieht, als würde Nachfolge bedeuten, den Älteren auf den von ihnen vorgezeichneten Wegen nachzufolgen.

Nachfolgen bedeutet nicht: folgsam sein

Der Unternehmer hatte die besten Absichten, aber er blockierte seine Söhne eigentlich mehr, als sie zu fördern. Er blockierte die Möglichkeiten, gemeinsam in dieser Nachfolge-Situation zu wachsen und sich zu entwickeln.

Es ist wirklich nicht so einfach, nicht als der Herr über den Löffel der Weisheit dazustehen und aus der Beziehung zwischen den Generationen eine Frage von „Gehorsam und Folgsamkeit“ zu machen.

Dies immer wieder zu erleben, lässt mich meinen Vater noch toller finden. Er war ja mit Leib und Seele Gastronom und führte auch als Koch einen Landgasthof im Schwarzwald. Ich bin in der Gastro aufgewachsen, habe oft meinen Eltern beim Bedienen oder auch in der Küche geholfen. Irgendwann fragte er mich, ob ich nicht einmal die Gastronomie übernehmen will. Ich wollte nicht. „Ne!“, sagte ich zu meinem Vater, „Ich möchte Profifußballer werden. Ich möchte ganz andere Dinge machen.“ Was hat er geantwortet?

„Okay. Jeder Mensch muss seine eigene Idee verwirklichen.“, ein sehr weiser Mann, mein Papa.

Nicht gegen, sondern für etwas entscheiden

Dass diese Weisheit durchaus auch durch die Junioren verkörpert wird, möchte ich dir gerne an einem wunderschönen Beispiel zeigen. Ein junger Mann besuchte ein Seminar von mir. Er machte einen sehr geschäftigen, strukturierten, analytischen Eindruck, dabei war er offen und bereit, auch emotional tiefer zu gehen. Ein schon besonderer Mensch. Sein Vater wollte, dass er das Familienunternehmen übernimmt. Der Junior wurde schon länger auf diese Verantwortung vorbereitet, er wuchs in die Unternehmensführung hinein. Der Plan war, dass er das Unternehmen zusammen mit einem CO-Geschäftsführer leitet, der das Unternehmen schon lange kennt. Und Junior fand auch, dass dies ein guter Plan sei. Er kam mit dem Geschäftsführerkollegen gut klar, er würde von einer erfahrenen Führungskraft an seiner Seite als eine Art Mentor lernen können, und Gespräche mit seinem Vater hatten ihn darin bestärkt, dass er als Nachfolger seinen eigenen Weg in der Unternehmensführung finden und gehen würde. Alles tippitoppi also … Und dennoch: Je tiefer er in die Materie einstieg, umso deutlicher wurde es für ihn, dass er für sein Leben andere Ideen hat.

„Wenn ich Ja! sage und das Unternehmen übernehme, dann gibt es nichts anderes mehr in meinem Leben. Ich kenne mich, ich hänge mich da voll rein, das Unternehmen wird mein Leben sein. Aber ich will noch ein bisschen was von der Welt sehen. Ich will mit meiner Frau reisen. Ich spüre diese riesige Verantwortung gegenüber meinem Vater, aber auch gegenüber meiner Frau und vor allem mir. Und je mehr ich in mich hineinhorche, umso klarer wird mir: Mein Bauch sagt Nein!“

Wunderschön und weise fand ich das: Weil der Junior so den Senior zur Weiterentwicklung anspornte. Die Gespräche zwischen den beiden waren sehr intensiv und haben auch den Senior weitergebracht. Weil das keine Entscheidung gegen etwas war – es war eine Entscheidung für etwas. Für ein Leben, das sich noch entfalten darf. Für Neugier. Fürs Ausprobieren.

Stehst du vor ähnlich bedeutenden Entscheidungen, dann lass dich ebenso nicht unter Druck setzen, nicht als Senior, nicht als Junior, höre auf deine innere Stimme. Entwickle dich, geh’ in die Tiefe und entdecke deine eigene Idee einer Zukunft.

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