„Heeeuuul!“ Ich hatte dem verwöhnten Sohnemann das Smartphone aus der Hand gerissen. Seit einer halben Stunde trat er mir unter dem Tisch immer wieder geistesabwesend ans Schienbein, so sehr war er in sein Handyspiel vertieft. Die Mutter sah mich entsetzt an. Dabei hatte ich ihr Kind schon mehrmals um mehr Achtsamkeit gebeten – und sie hatte auf keine Weise reagiert. Wie kann es sein, dass Eltern ihren Kindern heute so gar keine Grenzen mehr setzen?

Honig ums Maul

Dieselbe Frage musste wohl den älteren Herrn umgetrieben haben, den meine Mutter einmal im Supermarkt beobachtete. Er hatte seelenruhig an der Kasse gewartet, während das Kind hinter ihm in der Schlange immer wieder den Einkaufswagen an seine Beine schob. Als er die Mutter bat, ihrem Kind Einhalt zu gebieten, reagierte sie herablassend: „Sicher nicht! Ich erziehe mein Kind antiautoritär.“

Der Mann zuckte nicht mit dem Mundwinkel. Er bezahlte, nahm dann in aller Seelenruhe eine Honigtube aus seinem Korb – und drückte ihren Inhalt quer über den Einkauf der Frau aus. Sein Kommentar: „Entschuldigung, ich wurde antiautoritär erzogen.“

Tja, da hatte die Mutter einen erlebnisreichen Einblick erhalten, wie es auf der anderen Seite der „Ich-darf-alles-Welt“ aussieht.

Im Abschiebeheim

Vielleicht finden Sie mich jetzt altmodisch, aber ich finde es bedenklich, wenn Kinder völlig ohne Grenzen aufwachsen. Sie erfahren nicht, wann „es genug ist“ und sie sich einmal zurücknehmen müssen.

Die Ursache liegt oft in einem Mangel an Aufmerksamkeit. Zwischen Karriere, Selbstverwirklichung und Terminen wurde das Kinderkriegen abgehakt wie auf einer Liste. Will dieses Kind nun zeitfressende Aufmerksamkeit, wird es von den vielbeschäftigten Eltern abgeschoben: vor den Fernseher, die X-Box, das Smartphone. Dort bleiben die Kinder ruhig – zumindest eine Zeit lang.

Ihr betäubtes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, nach Nähe und Kontakt mit den Eltern wacht früher oder später aber natürlich wieder auf. Und oft äußert es sich dann noch fordernder und in noch größerem Wahnsinn, weil die Kinder geradezu um Aufmerksamkeit betteln. Der Stresspegel wächst für Kinder wie Eltern. Denn Zeit, Grenzen aufzuzeigen und vorzuleben, bleibt bei so einer Abschiebe-Beziehung natürlich nicht.

Wie Grenzen wirken

Dabei erlebe ich als Trainer immer wieder, wie gut es Kindern tut, wenn sie klare Grenzen bekommen. Sie bilden einen Rahmen, in dem sie sich ausgelassen und fröhlich bewegen können. So gilt bei mir im Training beispielsweise die Regel, dass nur in den Trinkpausen alle gemeinsam trinken dürfen. Die Kinder akzeptieren das klaglos und unterstützen die Grenzen sogar oft selbst – wie manche Eltern dann verblüfft feststellen. „Ich darf jetzt nicht trinken, Mama“, sagte einmal ein sonst sehr verwöhnter Junge zu seiner Mutter, „es ist noch nicht Trinkpause.“

Die Kinder merken: Ich bin als Trainer nur für sie da. Meine Aufmerksamkeit gehört voll ihnen. Und das honorieren sie mit einem entsprechend entgegenkommenden Benehmen.

Ich weiß, es ist etwas anderes, wenn ich Kinder für ein paar Stunden betreue und sie dann wieder abgeben kann. Sie haben Ihre Kleinen den ganzen Tag. Aber überlegen Sie nur, was Sie erreichen könnten, wenn Sie sich die Zeit nehmen, Ihren Kindern Ihre Aufmerksamkeit zu schenken und gemeinsam Grenzen zu definieren. Klar, das macht in anderen Bereichen wie der Karriere vielleicht Abstriche nötig. Doch Sie werden mit glücklichen Kindern belohnt, wenn Sie aus dem oben beschriebenen Teufelskreis aus Abschiebung und Aufmüpfigkeit ausbrechen.

Denn gesunde Grenzen geben vor allem Halt in einer Welt, die sich in einem Wahnsinnstempo dreht.

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