In Griechenland gibt es ein Sprichwort: „Scheuklappen garantieren eine sichere Orientierung.“ Logisch, ohne Blick nach links und rechts immer geradeaus. Am Rande eines Seminars habe ich ein gutes Beispiel dafür erlebt.

Ich saß nach dem Seminar mit Kollegen in einem Restaurant und bestellte gerade bei der Bedienung mein Essen. Da schaute eine Kollegin plötzlich von ihrer Speisekarte auf, fiel mir ins Wort und diktierte ihre eigene Bestellung inklusive Sonderwünsche.

Wie Sie sich vorstellen können, war ich für einen Moment sprachlos. Wie konnte sie völlig missachten, dass ich gerade dabei war zu bestellen? Das war nicht nur mir gegenüber respektlos, sondern auch der Bedienung gegenüber, die dann Mühe hatte, unsere Bestellungen zu sortieren.

Nun gut, das mag eine Lappalie sein, aber es hat mich geärgert. Darum habe ich es an dem Abend am gesamten Tisch auch zum Thema gemacht. Und jetzt stellen Sie sich das vor: Meine Kollegin verteidigte sich und meinte, dass Sie eben großen Hunger hätte und deshalb schnell bestellen wollte. Die anderen müssten für eine solche Situation einfach mal Verständnis haben. Da wäre mir beinahe die Hutschnur geplatzt!

Verständnis ja, aber nicht für alles

Natürlich kann eine persönliche Geschichte dahinterstehen – ein Trauma oder eine Angst. Und natürlich ist im menschlichen Umgang miteinander Verständnis angebracht – aber nicht immer und schon gar nicht für alles! Und es geht gegen meine Vorstellung von Mitmenschlichkeit, wenn sich eine Person aus ihren eigenen Bedürfnissen das Recht ableitet, sich vordrängeln, anderen auf die Füße treten und Chaos stiften zu dürfen.

Zugegeben, ich habe früher selbst öfter eine solche Haltung an den Tag gelegt, habe mich selbst wichtiger genommen als andere. Es ist eine kurzsichtige Überlebensstrategie, die im Moment die Bedürfnisbefriedigung sichert, aber im Nachhinein Ärger beschert. Durch mehrere Krisen habe ich dann gelernt, meine Bedürfnisse auch mal zurückzustellen und rücksichtsvoller mit meinen Mitmenschen umzugehen.

Gesunder Egoismus vs. Egozentrik

Der Punkt ist nämlich: Wenn Ihre Selbsteinschätzung dermaßen in Schieflage gerät, entsteht daraus egozentrisches Verhalten – weitab vom gesunden Egoismus. Das sind die Scheuklappen, die Sie stur geradeaus laufen lassen, ohne nach links und rechts zu blicken – eben wie der Esel im griechischen Zitat. Nur dass bei einem Esel mit Scheuklappen niemand damit rechnet, dass er mehr sieht als das, was sich direkt vor seiner Nase befindet. Ihre Mitmenschen dürfen aber mehr Umsicht und Achtsamkeit erwarten.

Wenn Sie also verstehen, dass andere auch Bedürfnisse und dasselbe Recht auf Erfüllung dieser Bedürfnisse haben wie Sie selbst, wenn Sie sich nicht wichtiger, aber auch nicht unwichtiger nehmen als andere, wenn Sie darauf achten, Ihre Bewertung von sich und anderen in Balance zu halten, erkennen Sie automatisch auch, was links und rechts passiert. Dann haben Sie keine Scheuklappen auf und sind auf Augenhöhe mit Ihrem Umfeld – ein Mensch unter Menschen.

Respektvoller Umgang – die hohe Schule persönlicher Reife

Und wenn Sie jemand respektlos behandelt? Dann können Sie demjenigen trotzdem Respekt entgegenbringen. Das ist die hohe Schule der persönlichen Reife. Aber Verständnis für Menschen, die zu arrogant sind, um auf andere Rücksicht zu nehmen, habe ich nicht! Jeder, der Mitglied einer Gesellschaft sein will, muss bereit sein, sich in dieser Gesellschaft zu orientieren und seinen Platz neben anderen Menschen einzunehmen. Punkt.

Falls Sie trotzdem unbedingt Scheuklappen tragen wollen, können Sie sich jedenfalls nicht beschweren, dass der Weg geradeaus der Ausgang aus der Gesellschaft ist.

Photo Credit: shockfactor.de – Fotolia.com #49626214

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