Richtig perfekt ist richtig daneben

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Richtig perfekt ist richtig daneben. Drei seltsam gewachsene Karotten auf rotem Hintergrund.

 

Mir hat es schon die ganze Zeit in den Fingern gekribbelt, diesen Gedanken hinzuschreiben, diesen Namen zu verwenden: Aber jetzt denke ich, ist der perfekte Moment dafür gekommen:

„Die Dosis macht das Gift!“, so schrieb die kluge Grande Dame der Mystik und Heilkunde Hildegard von Bingen. Und wenn es um Perfektion geht, dann stimmt das dreimal.

Eins: Perfektion ist kein freudvolles Ziel

Ich liebe es, wenn Menschen einen hohen Anspruch an sich selbst haben. Ich steh auf gute Leistung. Ich liebe es, wenn Menschen die Dinge, die sie machen, sehr gut machen wollen. Wenn jemand eine anspruchsvolle Vision von sich hat, sein Leben kunstvoll leben möchte, darauf steh’ ich: Aber wenn der hohe Anspruch bedeutet, perfekt sein zu wollen. Wenn nicht die kleinste Abweichung von der Vision erlaubt ist, wenn fünf Millimeter neben der Spur nicht tolerierbar sind, dann ist es vorbei mit meiner Liebe: Denn zu viel ist eben zu viel des Guten. Und zu viel Anspruch Perfektion sorgt in so einem entscheidenden Maße für ein Zuwenig an Lebensfreude, dass ich „Nein zur Perfektion!“ sage.

So viele Menschen haben Probleme mit ihren eigenen Ansprüchen oder den Ansprüchen, die andere an sie haben, dass das Streben nach Perfektion einen Druck bedeutet, der den Kessel explodieren lässt. Der Körper verkrampft sich und aus Krampf entsteht Kampf.

Der Anspruch, alles perfekt zu machen, sorgt dafür, dass Sie ständig mit sich selbst im Clinch sind, ständig werden Stresshormone ausgeschüttet. Alle Leichtigkeit geht flöten. Freude macht so ein Leben nicht.

Zwei: Wer perfekt sein will, sagt ständig Nein!

Ich habe es Ihnen ja schon geschildert, wie wichtig ein positives Selbstgespräch ist, auch für den Erfolg. Wenn Sie aber vor lauter Perfektionsanspruch verkrampft sind, dann sind Sie ständig in einem negativen Selbstgespräch. 

Das ist wie bei dem jungen Fußballspieler vor vielen Jahren: Er wollte das perfekte Spiel spielen – denn da saß der Bonhof auf der Tribüne, der ihn vielleicht in den Kader der U18 holen würde. Dieser junge Kerl dachte deshalb ständig: ‚Ich darf keinen schlechten Ball spielen. Nein, ich darf keinen Fehlpass riskieren.’ Dass der so dachte, weiß ich ganz sicher, denn dieser junge Fußballspieler war ich selbst. Und ich blieb in diesem Spiel weit unter meinen Möglichkeiten, weil ich im Krampf-und-Kampf-Modus war. Auch wenn ich das Glück hatte, dass mich Rainer Bonhof trotzdem nominierte: Mit diesem Perfektionismus bremste ich mich viele Jahre selbst aus.

Ich habe erst später erfahren und erlebt, warum es für meinen persönlichen Erfolg und die Freude am Leben so wichtig ist, nicht zu perfekt sein zu wollen.

Drei: Wer mag schon perfekte Menschen?

Vor rund 50 Jahren entdeckte der US-amerikanische Psychologe Elliot Aronson in einem Experiment den sogenannten Pratfall-Effekt: Dieser besagt, dass eine angesehene Person, wenn ihr kleine Missgeschicke passieren, sympathischer wird. Menschen, die zu perfekt wirken, wirken nicht sympathisch. Erst ein kleines Missgeschick lässt sie einnehmender auf andere Menschen wirken.

Ich habe das lange nicht verstanden: So habe ich mich bei meinen Vorträgen immer um die totale Perfektion bemüht. Konnte anderthalb Stunden wie gedruckt reden, hatte den ganzen Text im Kopf, konnte den inszenieren. Super. Aber ich erreichte die Menschen damit nicht so, wie ich es mir wünschte. Ich erzeugte nicht die Resonanz, die möglich gewesen wäre. Weil ich zu perfektionistisch war. 

Erst als ich begann, ganz natürlich mit meinen Fehlern zu leben und mir auch den Raum gab, innerhalb der Struktur freier zu agieren, da klappte das immer besser mit der Resonanz. Und wenn ich heute merke, dass es zu perfekt läuft, dann erlaube ich mir auch bewusst, kleine Fehler zu machen. Und ich lernte Hildegards Dosis-Erkenntnis als Teil meiner persönlichen Lebenskunst zu erfahren: Es ist die schönste Kunst, die Balance zu finden zwischen dem hohen Anspruch, den ich an mich selbst habe, und dem Wissen, dass ich dafür nicht perfekt sein muss. Ich lebe mein bestes Ich in aller Leichtigkeit. 

Diese Balance ist richtig perfekt, weil sie auf die richtige Weise daneben ist. Die richtige Dosis von allem eben.

Ihr

Stefan Reutter

1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Sven Moosmann
    11. August 2022 10:34

    Super geschrieben! Du hast ja so recht……das merke ich in meinem Unterricht auch jedes Mal. Wenn es nicht perfekt ist macht es am meisten Spaß! Schwellenpädagogik ist es, die am besten ankommt.
    Liebe Grüße
    Sven

    Antworten

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