Alle Achtung – Streitkultur!

Eigenverantwortung, Lebenskunst, Respekt
Alle Achtung – Streitkultur! - Stefan Reutter

Wissenschaftler an der finnischen Aalto University haben 2013 in einem Versuch mit 700 Probanden aus Taiwan und Skandinavien die Körperwahrnehmung von Emotionen untersucht. Also von Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Und das faszinierende Ergebnis war: Die haben die Emotionen alle auf eine gleiche oder ähnliche Weise körperlich wahrgenommen. Ich finde, das ist eine super Basis für eine Streitkultur, die uns alle, Sie, mich, im Business und privat weiterbringt …

Streitkultur verorten

Der Versuch ging so: Nachdem bei den Probanden die verschiedenen Basisemotionen wie Hass, Liebe, Wut ausgelöst wurden, sollten sie in einen Blanko-Umriss des menschlichen Körpers eintragen, wo und wie sie die Emotion körperlich empfanden. Und alle konnten sie tatsächlich verorten: Wut macht sich vom Bauchnabel aufwärts in der oberen Körperhälfte breit. Fröhlichkeit dagegen flutet den ganzen Körper, Neid wird im Kopfbereich empfunden. Und das gilt, so das Ergebnis der Studie, für jeden Menschen, völlig unabhängig von seiner Herkunft oder Sozialisation.

Es passiert also jede Menge, wenn meine Emotionen in einem Streit mit einem Freund hochkommen. Und ich kann das gar nicht verhindern, weil ein körperlicher Automatismus in Gang kommt. Aber mithilfe der körperlichen Reaktionen kann ich lernen, mich genauer zu beobachten und zu erkennen, was mich eigentlich genau in Wallung bringt.

Streitkultur in Aktion

Vor einiger Zeit hatte ich mal auf einer Familienfeier ein interessantes Gespräch mit meinem Onkel. Anlass war eine TV-Reportage über Steuerhinterziehung. Da sagt er plötzlich: „Ja, das ist typisch für alle Chefs. Die beuten ihre Mitarbeiter aus und verdienen selbst immer mehr …“

Ich spürte schlagartig einen Druck in der Magengrube. Denn ich hörte das Muster „arme Arbeiter, böse Unternehmer“ heraus. Und das ärgerte mich. Warum? Weil ich selbst Unternehmer bin. Ich fühlte mich angegriffen. Und deshalb ging ich gleich zum Gegenangriff über: „Es sind ja nicht alle gleich. Es gibt sowohl reiche als auch arme Mistkerle.“

Das Gespräch ging so weiter und schaukelte sich langsam hoch. Weil ich angefressen war, versuchte ich mich zu verteidigen und rief irgendwann: „Weißt du eigentlich, wie viel so ein Unternehmer täglich arbeitet?“

Viel fehlte nicht mehr, und ich hätte ihn vielleicht persönlich angegriffen, nur um meine Emotion abzureagieren.

Auf einmal dachte ich: „Was läuft hier gerade eigentlich ab? Warum bin ich so wütend?“ Ich fing an, darüber nachzudenken, wie seine Meinung wohl zustande gekommen war. Was er im Leben erlebt haben musste, um so über Unternehmer zu denken. Was es mit ihm machte, wenn er so dachte. Je mehr ich mir solche Fragen stellte, desto mehr kam ich von meiner eigenen Beklommenheit los und konnte im Gespräch auf ihn eingehen. Und auf einmal entwickelte sich eine gute Diskussion über unterschiedliche Lebensentwürfe, über Selbstvertrauen, über Ziele im Leben. 

„Nach einer Weile sagte er: „Jeder soll sein Ding machen. Aber er soll zufrieden sein mit dem, was er hat.“

Und ich erwiderte: „Es ist gut, wenn jemand das so für sich entscheidet. Aber ich finde es nicht gut, anderen Vorwürfe dafür zu machen, wenn sie sich weiterentwickeln und mehr haben wollen.“

Er nickte. Darauf konnten wir uns einigen. Und anschließend konnten wir entspannt und mit einem Gefühl gegenseitigen Einverständnisses dazu übergehen, Anekdoten aus alten Familienzeiten auszutauschen.

Mein Onkel hat Streitkultur. Alle Achtung!

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